Aus schriftlichen Äußerungen von Werner Oehlmann, Karl Rehberg, Oskar Söhngen und vielen anderen namhaften Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geht übereinstimmend eine hochschätzende Tendenz hervor, die kurz angerissen hier erscheint.
Als Leiter des Philharmonischen Chores Berlin, den er im Kriegsjahr 1943 übernahm und nach 1945 unter schwierigsten Bedingungen neu gründete, hat Hans Chemin-Petit eine große Berliner Tradition übernommen; er hat das Werk von Siegfried Ochs, dem Schöpfer eines unakademischen, virtuos-subjektivistischen Chorgesangstils fortgesetzt und in eine veränderte Zeit hinübergeführt. Ihm ist es zu danken, daß der Chor, seinen ursprünglichen Charakter und seine Bedeutung bewahrend, wirken konnte. Der universale, Barock, Klassik, Romantik und Gegenwart umfassende Gestaltungswille, der den Gründer des Chores erfüllte, ist auch in Hans Chemin-Petit lebendig; seine beispielhaften Interpretationen von Beethovens Missa solemnis und Brahms’ Deutschem Requiem sind gültige Werte des Berliner Konzertsaals, in Aufführungen von Chorwerken Blachers, Davids, Hindemiths und Furtwänglers bezeugte sich seine Verbundenheit mit der musikalischen Gegenwart. Fast jede Saison stand eine Ur- oder Erstaufführung auf dem Programm. So auch Werke von Bialas, Borris, Chemin-Petit, Driessler, Genzmer, Honegger, Orff, Pfitzner, Wagner-Régeny, H.W. Zimmermann. Die Erfolge waren beachtlich.
Daß Chemin-Petit den Philharmonischen Chor nach Günther Ramins Weggang trotz der sich auftürmenden Schwierigkeiten zusammenhielt, zeugt nicht nur von überlegener Sachkenntnis in musikalischen Dingen, sondern vor allem von der starken Ausstrahlung einer zielstrebigen Persönlichkeit.
Chemin-Petit hat auch in chorerzieherischer Hinsicht, d.h. in der Erweiterung und Vertiefung des musikalischen Gemeinschaftserlebnisses Herausragendes geleistet. Was er anstrebte, war wohl aber die sachgerechte, den Intentionen des Komponisten sorgfältig folgende, natürlich auch von starken Emotionen durchpulste Wiedergabe der Werke in den Aufführungen. Seine Interpretationen können als klanggewordene Persönlichkeit angesehen werden.
Schon 1952 äußerte sich der Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter: „Sehr geehrter Herr Professor! Ich habe das Bedürfnis, Ihnen für den gestrigen Abend (Missa solemnis, d.Red.) aufrichtig und herzlich zu danken. Es war eine Aufführung, die ich nicht vergessen werde. – Mit den verbindlichsten Empfehlungen, Ihr sehr ergebener Ernst Reuter.“ Und weiter Ernst Reuter: „Eine der stärksten dynamischen Kräfte des Berliner Musiklebens und der Berliner Musikkultur war und ist der Philharmonische Chor.“
Über die interne Probenarbeit gibt die ständige Korrepititorin und Cembalistin des Ensembles, Käte Walter, die von 1946 bis 1981 mit Hans Chemin-Petit zusammengearbeitet hat, Auskunft: „Die Leitung eines Laienchores verlangt den ganzen Menschen, den Künstler und Pädagogen. Dieser besonderen Sendung war sich Chemin-Petit bewußt. Als Leitgedanke wirkte sich der pädagogische Aspekt auf alle Bereiche der Chorführung aus und kennzeichnet die individuelle Arbeitsweise. Der Chor wurde vor allem zur ganzen Unbefangenheit vitaler Freude am Singen herausgefordert. Dieses Frei-Singen leitete über zur kontrollierten Phase des Singens, das den Charakter des Einstimmens bekam, des Hörens auf- und miteinander. Stimmbildung oder Stimmerziehung waren also in der musikalischen Kategorie angelegt, der Sensibilisierung des Ohres. […] So wurde die Atemführung geschult und der Sänger befähigt, den Atem im Spannungsgrad von Tempo und Ablauf ökonomisch einzusetzen und zu führen. Die Elemente des Arbeitsprogrammes ergänzten sich, griffen ineinander und bildeten eine Einheit. […] Wie sich denken läßt, verliefen die Proben aufgrund solcher Disposition in einer Atmosphäre der Ausgewogenheit von Spannung und Lockerheit, und Zuhörer stellten bewundernd fest, daß der Chor bei Probenende genauso frisch und unangestrengt wie zu Beginn sang und wirkte.
Bei Neueinstudierungen mit allen vorhersehbaren Schwierigkeiten beobachtete Chemin-Petit besonders aufmerksam seine Sänger. Er sah und hörte, wenn der eine oder andere Sänger durch eine momentane Unsicherheit irritiert war oder, wie man es nannte, ausstieg. […] Hier wurde dann Vertrauen geschaffen und Sicherheit vermittelt. Der Faktor Sicherheit spielte eine große Rolle, nicht nur im Falle der absoluten Bewältigung des Notentextes, sondern auch in der Bemühung, die inhaltlichen Zusammenhänge erfaßbar zu machen. In allen Probenphasen wurde das klangliche Volumen entwickelt – wie anfangs beschrieben, immer ermutigend. In dieser Geste der Ermutigung war bereits suggestiv enthalten, was Differenzierung betraf, Variabilität in Farbe und Dynamik und zugleich Beweglichkeit im Tempo.
Wenn es sich im Anfangsstadium einer Einstudierung vorwiegend um Fragen der Artikulation, Phrasierung und Atemführung handelte, dann erweiterten sich jetzt die Aufgaben und Anforderungen hinsichtlich der Begegnung mit dem Werk als Ganzes, seiner Struktur und formalen Gliederung. Hier nun spielte das Zusammenwirken von Solostimmen und Chor eine wesentliche Rolle, und aus diesem Grunde regte Hans Chemin-Petit die Stimmführer an, sich mit den Solopartien zu beschäftigen. […] Die Chorsolisten-Praxis bewährte sich ganz besonders bei Beethovens Missa solemnis. Von einem bestimmten Arbeitsstadium an entwickelten sich die Chorproben zu Ensembleproben, wodurch auch wieder eine Annäherung im Verständnis vom Werk und seinem gedanklichen Bau erreicht wurde.
Was den Chor künstlerisch aber prägte, das war die Gestaltungskraft des Dirigenten Chemin-Petit. Mit suggestiver Eindringlichkeit, der zwingenden Geste, übertrug er seine interpretatorische Vorstellung auf die Mitwirkenden. Es war offensichtlich, daß es für die Ausdruckskraft des Chores keine Grenzen gab, daß beispielsweise ein fff transparent und schwingend blieb, wie andererseits ein ppp Klang und Farbe behielt.
Um welches Werk es sich auch handeln mochte, immer gelang Anschaulichkeit – Element der Darstellung und Gestaltung. Im Erleben des Konzertes wurde man sich einer Nachhaltigkeit bewußt, die – das darf man sagen – auch von der unirritierbaren, menschlich bestimmten Einstellung und Haltung Chemin-Petits ausging. Wirkungen dieser Art entziehen sich der Beschreibung oder Bewertung, – sie haben ihren Schlüssel in der Persönlichkeit, der Komponente des geistigen Ranges.“
Käte Walter: Die Chemin-Petit-Ära des Philharmonischen Chores 1943-1981, in: Hans Chemin-Petit, 1902-1981, a.a.O.